Freitag, 4. Februar 2011

Singleframe, das Großmaul?

Im A2-Forum wurde das Thema »Was fasziniert an "Großmaul"-Kühleröffnung?« eröffnet, und ich konnte nicht umhin, einen zwar subjektiven, aber mit sachlichem Background geschriebenen Kommentar dazu zu geben.
Zitat:
Vorgeschichte:

Als ich mein erstes Betriebspraktikum bei Audi machte, habe ich dort öfters Autos (B3) gesehen, bei denen das Frontend abmontiert war. Man sah den Kühler komplett, das kam gut, und ich dachte: "Eigentlich könnten sie sowas mal machen: Einen Grill, der exakt der Größe des dahinter liegenden Kühlers entspricht. Das sieht gleichzeitig klassisch und kräftig aus…"


Fakten:
– Der Singleframe ist, rein flächenmäßig, nicht größer als die "Kühlergrills" anderer Autos. Im Prinzip sind hier einfach nur das obere und das untere Gitter zu einer Form zusammengefasst.

– Bei sehr vielen Fahrzeugen ist der Grill aus aerodynamischen Gründen innen zum großen Teil geschlossen – er ist also ein reines Dekorelement und für seine Form sind funktionale Faktoren praktisch bedeutungslos. Das ist bei allen Marken so.


Grund 1 für den Singleframe: Physiognomie.
Eine Studie hat gezeigt, dass Männer beim Betrachten von Fotos von Autos dieselben Gehirnteile nutzen, die auch bei der Betrachtung von Gesichtern aktiv sind. Das sind evolutionsgeschichtlich sehr alte Gehirnregionen, nahe am Hirnstamm, das "Reptiliengehirn" ist nicht weit. D.h. Wahrnehmung und Reaktion sind nicht durch das entwickelte Denken kontrolliert.
Wie ihr schon geschrieben habt, herrscht auf den Straßen eine Art Krieg: Der andere Verkehrsteilnehmer wird als Feind wahrgenommen, zumindest als Konkurrent. Auch das spielt sich in den alten Gehirnregionen ab, die früher mal für die Jagd zuständig waren. Demnach verspricht ein Design, das Macht und Stärke zum Ausdruck bringt eher Erfolg, als eines, das neutral wirkt. Im Wettbewerb entsteht dadurch ein gewisser Zwang: Wer auf ein ausdrucksstarkes Gesicht verzichtet, verkauft einfach weniger Autos.

Allerdings darf man, vor allem in Europa, auch nicht übertreiben, Reste von Höflichkeit und Kultur sind ja noch vorhanden.


Grund 2 für den Singleframe: Unterscheidbarkeit
Fast noch wichtiger, vor Allem für (…) Audi, ist die Unterscheidbarkeit, die Markenidentität, und zwar bei Tag und Nacht. Der Singleframe war eine Art Befreiungsschlag im Zuge der optischen Identitätsfindung gegenüber BMW und Mercedes (…). Die aktuelle Audi-Physiognomie ist absolut unverwechselbar und nur schwer (ohne Peinlichkeiten) zu imitieren. Aus demselben Grund wird bei allen Herstellen auch intensivst am Design der Lichtquellen gearbeitet – die oft gescholtene "Kirmesbudenbeleuchtung" hat zwei Funktionen: 1.) Unverwechselbarkeit auch bei Nacht schaffen 2.) technische Kompetenz demonstrieren


Aggressiv?

Oft wird argumentiert, der Singleframe wirke besonders aggressiv. Stimmt das wirklich? Schaut euch mal die zugespitzten Nasen, die zusammengekniffenen Augen, das vorgeschobene Kinn [anderer Modelle an]…

Die Audi-Designer selbst sprechen vom "Confident Look", also einem selbstsicheren, zuversichtlichen Gesichtsausdruck.
Das ist, wenn es funktioniert, eine recht elegante Methode, sich aus dem oben genannten Krieg heraus zu halten: Zu signalisieren, dass man es schon geschafft hat und nicht erst kämpfen muss. Im Laufe der vergangenen Modellwechsel hat da auch eine gewisse Verfeinerung stattgefunden, und wo der letzte A6 noch ein wenig nach Darth Vader aussah, wird nun durch die Abschrägung der oberen Ecken ein Eindruck erzeugt, der eher Richtung Hundenase geht, was zweifellos sympathischer ist.
Ich sehe einen Ausdruck von Etabliertheit und Souveränität, wie ihn die Autos der 30er Jahre hatten.

Und der Vorwurf, diese Fronten seien aggressiv, geht an der Wirklichkeit vorbei. Er wird meiner Ansicht nach genau durch diesen etwas arroganten, selbstsicheren Auftritt ausgelöst – haben wir nicht alle gewisse Underdog-Gefühle in uns?


Außerdem ist es natürlich so, dass die Audi Designer eine platte "Punkt, Punkt, Koma, Strich"-Physiognomie (die bei Kleinwagen ok ist) vermeiden wollen – die Parallelen zum Gesicht sollen zwar wirken, sich aber nicht penetrant aufdrängen.


Ich persönlich finde den Singleframe an den meisten Modellen recht passend und gelungen – und angesichts der Tatsache, dass die Frontgestaltung aller Autos sowieso kaum mehr sichtbar funktionalen Faktoren folgt, halte ich das Spiel, das sich Audi hier erlaubt, für legitim bis genial.

Und es gibt noch einen Faktor der mich als Designer an den Singleframe-Fronten besonders anspricht: Sie ermöglichen mehr Ordnung als die klassische Gestaltung und klarere, mit dem Körper harmonische Linienverläufe.


Soviel für heute. Man könnte da noch tiefer einsteigen, aber alles Wesentliche ist wohl erst mal gesagt.