Donnerstag, 1. März 2012

Unstetes Sternbild

Mercedes-Benz, Corporate Identity

»Mercedes – Ihr guter Stern auf allen Straßen.« Immer, wenn ich als Kind den Münchner Hauptbahnhof betrat (und also in Reiselaune war), leuchtete mir diese Schrift entgegen. Für mich stand fest, dass dies die Werbung des besten aller denkbaren Autohersteller war. Teuer, freilich – zu teuer für meine Eltern, die ihr Geld lieber für Urlaubsreisen ausgaben – aber auch in jeder anderen Hinsicht aus einer anderen Welt.

Manches an diesen Autos schien mir seltsam, und auch als ich im Teenageralter die T-Modelle der Reihe W123 auf langen Reisen sehr gut kennenlernte änderte sich an dieser Empfindung nicht viel.

Doch diese Seltsamkeit war immer unterfüttert durch einen unerschütterlichen Führungsanspruch. »Customers don‘t know what they want until we‘ve shown them« – dieser von Steve Jobs geprägte Satz hätte, auf gut deutsch natürlich, damals von Mercedes kommen können. Sicherheit war der prägende Eindruck, den man von der Marke und ihren Produkten hatte – Sicherheit nicht nur in dem Sinne, dass einem im Falle eines Falles im Mercedes weniger passiert wäre als in jedem anderen Auto, sondern Sicherheit auch im Sinne einer Handlungssicherheit derer, die diese Autos entwickelten und bauten. Das teilte sich mit. Wenn Mercedes es machte, war es richtig. Es hatte was von Glauben, jedenfalls von Vertrauen und immer schwang ein Hauch von Ewigkeit mit, wenn der Name »Mercedes« fiel. Man kann den Wert, den diese Marke bis in die 1970er Jahre hinein hatte vielleicht gar nicht überschätzen. Seither ist manches geschehen.

In den letzten 25 Jahren haben wir immer wieder davon gehört oder gelesen, dass die Marke mit dem Stern sich neu erfindet. Von Neuanfang war da die Rede, von einer Designrevolution, auch vom Vermeiden der Fehler der Vergangenheit. Und ein solcher Neuanfang wurde nicht ein mal verkündet, sondern regelmäßig.

Mercedes hat einen neuen Claim. »Das Beste oder Nichts«. Lassen wir mal die Frage weg, ob ein Satz, der zu fast der Hälfte aus Verneinung besteht, sich als Statement eignet – nach einer langen Zeit der Beliebigkeit enthält er aber doch eine echte, markenentypische Aussage. Ihre Glaubwürdigkeit wird sie im Laufe vieler Jahre erst noch beweisen müssen. Sogar der Name des Konzerns und seiner Produkte hat sich in den letzten Jahren mehrmals geändert. Daimler? Mercedes? Benz? Chrysler? Was nun? Drei oder vier Relauches hat das grafische Erscheinungsbild der schließlich doch noch erkennbaren Marke Mercedes über sich ergehen lassen müssen, und die waren nicht substanziell. Ein Soundlogo wurde, für einen angeblich sechsstelligen Betrag, erworben, das sich als ein leicht modifizierter Clip von einer RoyaltyFree-CD erwies. 3 Jahre später wurde es still beerdigt.

Und die Autos mit dem Stern? In diesen Tagen wird eine neue A-Klasse präsentiert, wieder eine Revolution! Mercedes hatte das Konzept des kleinen Minivan mit Sandwichboden erfunden und mutig (wenn auch etwas schusselig, Stichwort: Elch-Test) in den Markt gestellt. Zuerst wurde es kaum akzeptiert, dann zögerlich angenommen, schließlich durch andere neu interpretiert, wieder verworfen, erneut aufgenommen – und ist jetzt so aktuell wie nie. Doch Mercedes verabschiedet sich von dem Konzept und positioniert die A-Klasse neu, gegen 1er und A3, so dicht an diesen Mitbewerbern, dass schon Verwechslungsgefahr besteht. In zwei Jahren werden dann Audi (zum zweiten Male) und BMW (mit besonders hohen Erwartungen) Erben der A-Klasse vorstellen. Mercedes wird nichts Entsprechendes anzubieten haben.

Als jemand, der den Stern noch in seiner alten Herrlichkeit kannte und bewundert hat, stellt sich mir wieder und wieder die Frage: Was tun die da eigentlich? Ist man sich bewusst, welchen Eindruck diese ständigen – lauthals verkündeten – Kurskorrekturen beim Kunden machen? Manches von dem, was ich oben geschildert habe und vieles, was hier nicht zur Sprache kam, könnte aus einem Lehrbuch stammen, Titel: Wie zerstöre ich eine unzerstörbare Marke.

Stellen wir uns einen Augenblick vor, Mercedes wäre noch immer »Ihr guter Stern auf allen Straßen«. Stellen wir uns vor, die Marke hätte in den 80ern konsequent die Welle des Neokonservativismus geritten, hätte sich in den retro-begeisterten 90ern der wunderbaren Sportcoupés besonnen, die man 30 Jahre zuvor gebaut hatte (anstatt ihren Nachfolgern ein pseudosachliches Design zu geben, das niemanden wirklich begeistern konnte), wäre noch heute Hersteller unzerstörbarer, aber sündhaft teurer Autos, hätte noch immer Modellzyklen von 10 oder mehr Jahren, würde noch immer eigensinnig und akribisch grundlegende Verbesserungen entwickeln, gleichzeitig avantgardistisch und schwäbisch-provinziell. Stellen wir uns vor, man würde die üblichen Marketingsprüche von der Emotionalität des Produktes mit Verachtung strafen und tief emotionale, weil einfach überzeugende Autos bauen. Ist das vorstellbar? Vielleicht – und wenn, dann wäre das eine Marke mit einem beinahe religiösen Nimbus, in einer anderen Welt zuhause als die beiden bayerischen Mitbewerber, unvergleichlich, einmalig.

Man merkt schon, dass dieses Bild nicht so recht Farbe bekommen mag. Vielleicht konnte es nicht anders laufen, vielleicht ist der kurvenreiche Kurs der ehemals angesehensten deutschen Automarke einfach den Zeitläuften geschuldet, einschließlich der Zerstörungen, die profilierungssüchtige Manager und unsichere Entscheider an ihr verursacht haben. Aber eine Besinnung auf die alten Werte der Langlebigkeit, der Qualität und des Dienstes am Menschen (der nicht selten Dienst am Kunden war) wäre heute, im Jahr 2012, tatsächlich ein bisschen revolutionär. Den Begriff der Nachhaltigkeit musste man erst erfinden, das Prinzip gab es bei Mercedes schon lange. Rückbesinnung bei technologischer Führung, das wäre es.

Stattdessen strebt man mit aller Kraft in die Vergleichbarkeit. Modelle werden punktgenau gegen die der Mitbewerber positioniert, wertvoller Besitz wird verscherbelt (wie der Plakettengrill mit dem aufgesetzten Stern) oder jahrelang liegen gelassen (wie die Brennstoffzelle) und das neue Design von Gorden Wagener zeigt sich zwar bei den Konzeptfahrzeugen sehr edel, geradezu couturig, wird aber offenbar bei jedem neuen Modell in zahllosen Elefantenrunden plattgetrampelt, so dass am Ende ein beliebig modisches Geförmel auf die Straße kommt, das manchmal – und nicht an den schwächsten Stellen – an Opel erinnert (die andere Marke, die sich alle drei Jahre coram publico neu erfindet). Mit Verlaub: Es ist ein Trauerspiel. In der populären Fachpresse wetteifern die Leser nach der Präsentation der ersten Bilder einer neuen C-Klasse in ihren Briefen darin, wer den beleidigendsten Vergleich mit einem sogenannten Butter-und-Brot-Auto findet. Nun gut, das tun sie immer bei neuen Modellen. Aber erstens war Mercedes früher in dieser Hinsicht sakrosankt, und zweitens wäre es ganz schön schwierig gewesen, beispielsweise für einen W124 (die 1984 präsentierte mittlere Mercedes-Klasse) ein Vergleichsobjekt im Markt zu finden.

Nun will man uns allen Ernstes diese neue Designlinie als Rückkehr zur Klarheit verkaufen, als »Verzicht auf überflüssige Sicken und Kanten«, wie es so gerne formuliert wird. Durchaus möglich, dass dieses Neo-Retro-Design intelligent und (bis zur nächsten hausgemachten Revolution) marktgerecht ist, aber ihm fehlen gewiss zwei Eigenschaften: Originalität und Klarheit.

Originell ist es nicht, weil es sichtlich dem selben inzestuösen Carstyling-Stall entstammt wie praktisch die gesamte Durchschnittsware, die auf unseren Straßen fährt. Originell wäre ein Verzicht auf die aufgeregte Seitenmodellierung, die z.B. Mazda schon länger und konsequenter umsetzt. Originell wäre, anstelle der großen Geste, Verfeinerung, ähnlich wie Audi sie betreibt (viel kritisiert und überaus erfolgreich) nur auf einer ganz anderen, der eigenen, Basis.

Klarheit findet sich nicht, weil eine Überzahl von Lichtkanten, raffiniert gewölbten Flächen und elegant ausmodellierten Übergängen eben nicht klar aussieht, sondern das Fahrzeugvolumen hinter Reflexen und Schattenlinien verschwinden lässt – eine rollende Geste, die vieles bedeuten will, die es laut behauptet, und der es deswegen leider an Würde mangelt. Dass zudem häufig Diskrepanzen zwischen Form und Konstruktion die Mercedes-Ingenieure zu Notlösungen wie Blenden oder falschen Fugen zwingen, macht die Sache nicht besser.

Beides, Originalität und Klarheit wären aber, nicht nur auf das Karosseriedesign bezogen, sondern im Hinblick auf die ganze Marke, die richtigen Botschaften. Der Stern hat noch Leuchtkraft, aber dieses Potential muss sorgsam und konsequent genutzt werden. Die in Sachen Wachstum und steigendem Markenwert erfolgreichsten Marken der Gegenwart haben eines gemeinsam: Ein klar erkennbares Konzept und eine manchmal fast beunruhigende Beharrung auf ihrem einmal eingeschlagenen Weg. Und bei allem Humor, der zuweilen in der Umsetzung gezeigt wird, verstehen die Verantwortlichen hier, beim Markenkern und bei der Markenausrichtung, offenbar keinen Spaß, und sie sind auch nicht zu Spielen bereit. Diese Ernsthaftigkeit und diese Sicherheit entstehen, wenn Entscheidungen mit einer gewissen Leidenschaft, aber ohne jede Angst getroffen werden.

Wer sich sorgt und wer nicht bei der Sache ist, der vermasselt die Prüfung, wir alle wissen das. Und das ist das eigentlich Fatale an der Zappeligkeit, die Mercedes sich in seinem Auftritt erlaubt: Dass indirekt ständig der eigene Erfolg in Frage gestellt wird. Unverzeihlich in den Augen der klassischen Kunden des Hauses, uninteressant für neue.